Presse Archiv : Süddeutsche Zeitung, 31.5.2001


Kalle Laar und Michael Wesely pressen Metropolen auf Schallplatten

Es heißt, es habe einmal eine Zeit gegeben, in der die Erde die Form einer Schallplatte hatte. Diese Zeit soll aber schon lange vorbei sein; und seitdem sei, behaupten viele, die Erde rund, so rund fast wie eine Kugel. Aber vielleicht wird diese Frage niemals endgültig geklärt werden können. Kalle Laar und Michael Wesely haben gerade eine Stadt auf eine Schallplatte gepresst, und damit ist alles wieder offen. Los Angeles auf Vinyl.

Die Münchner Künstler haben in Kalifornien den Spagat geschafft, die in der Kunst wichtigsten Sinnesorgane, Auge und Ohr, mit nur einem Medium gleichermassen anzusprechen. Kalle Laar ist, auf der Suche nach den musikalischen Qualitäten der uns umgebenden Geräusche, auf den Klang der Großstadt aufmerksam geworden. Und so stand er eines Tages im Frühjahr 2000 mit seinem Freund, dem Fotografen Michael Wesely, der gerade ein freistaatliches USA-Stipendium bekommen hatte, in Downtown L. A. in der achten Straße und ließ einfach das Band laufen. Wesely stand daneben, drückte auf den Auslöser seiner Kamera, und die Blende schloss sich erst, als die Schallplatte voll war mit Geräuschen.

Das ist eine Besonderheit des Projektes: die exakte Gleichförmigkeit im Entstehungsprozess von Bild und Geräuschen. Auf eine Plattenseite passen etwa 20 Minuten Ton, und diese technische Vorgabe diktierte den Rahmen für die Arbeit. Weselys Foto ist im Kreisformat auf die Platte gebannt; zugleich ist in den Rillen, die dem Foto eine geheimnisvolle Wirkung geben, der Klang der Stadt versteckt, den Laar aufnahm. "Metropolis" nennt sich das Langzeitprojekt Langzeit, weil "L.A.01" nur der Anfang war. Weitere Metropolen sollen folgen. Nächstes Jahr wollen Laar und Wesely nach Sao Paolo, später nach Kuala Lumpur, Peking, Hongkong, Moskau, Rom, Paris, London, New York, vielleicht Berlin. In jeder Stadt sollen zwölf Platten entstehen. Alles nur voraussichtlich, versteht sich. Kunst will auch erst finanziert sein.

"Mit der Schallplatte", sagt Kalle Laar, "haben wir ein Medium gefunden, das auf beiden Ebenen gleich gut funktioniert". Die A-Seite enthält die unkommentierten Aufnahmen Laars und die Fotografie. Auf der B-Seite versucht Kalle Laar, die Geräusche zu interpretieren, indem er sie neu mischt und elektromsch manipuliert. 20 Minuten Großstadt verdichten sich so auf eine Situation, was seine Entsprechung im Foto findet.

Michael Wesely ist bekannt für Langzeitbelichtungen. In seinen Fotos verdichtet sich, wie in Laars B-Seiten-Remix, das pulsierende Verkehrsleben zu einem Moment, in dem alles verschwommen festgehalten ist: die Ampeln, wie sie mal Rot, mal Gelb und sogar manchmal Grün zeigen, die Busse und Autos, die für Augenblicke anhalten, die Menschen, die auf den Gehwegen vorbei gehen. Der Harbor Freeway, an dem er ein anderes Bild machte, ist dagegen nur geprägt von Autos, Autos, Autos. "In Los Angeles”, sagt Wesely" geht man nicht zu Fuß, das ist das Charakteristische". So wollen er und Laar es auch in den anderen Städten machen: die Besonderheiten suchen und sie dokumentieren. Auf den Tonbandaufnahmen aus Rom wird man viele Roller hören, aus Peking viele Fahrradklingeln. Fahrräder werden vorbeifahren an der Fotokamera, das Vorderrad wird eins mit dem Hinterrad, der Vorausfahrende wird eins mit dem Hintermann, und am Ende wird es Peking auf Platte geben.

"Multimedia", sagt ein Bekannter Laars. Und er: "Den Begriff würde ich nie verwenden. Aber im Grunde ist das richtig." Die Platte dreht sich auf dem Teller, Seite A liegt auf, die mit dem Foto, aber jeder Versuch, die Konturen der Stadt klar zu erkennen, ist vergeblich. Die Formen verschwimmen. Und das in der materiellen Welt.
Klaus Raab